Katrin Seglitz      Autorenlesung am 25.09.2011     Menu

Katrin Seglitz

Auszüge aus dem Roman „Der Bienenkönig“

Ich sah mich um nach meinen Bruder. Er ist groß und schlank, nicht zu übersehen. Ich hol dich ab, hatte er am Telefon gesagt, wann kommst du an? Ich hatte ihm die Uhrzeit genannt, aber vielleicht war etwas dazwischen gekommen. Oder er wartete am Bahnhof Zoo. Zum ersten Mal war ich am Hauptbahnhof angekommen, er lag im Ostteil der Stadt und hieß einige Jahre später Ostbahnhof. Und der Lehrter Bahnhof wurde zum Hauptbahnhof.

Es gab mehrere Etagen: die Bahnsteige für die Fernzüge und die Bahnsteige für die S-Bahnen, dazwischen Stangen und Säulen und hängende Plastikplanen.

Ich lief von rechts nach links und von links nach rechts. Kabelbündel lagen auf dem Boden, Betonmischmaschinen verstellten den Weg, der Bahnhof wurde renoviert. Ich sah das Gehäuse eines Fahrstuhls ohne Fahrstuhl und daneben eine Treppe, die nach unten führte.

Hier kommen Sie nicht weiter, sagte eine Frau, sie trug einen bunten Plastikkittel und hielt einen Porzellanteller in der Hand. Ihre Stimme klang triumphierend. Hinter ihr türmte sich ein Schuttberg. Der Triumph in ihrer Stimme ärgerte mich, und die Tatsache, dass sie mir den Zugang zu den unteren Etagen des Bahnhofs verwehren wollte.

Ich war plötzlich überzeugt davon, dass mein Bruder auf der anderen Seite wartete und mich ebenfalls suchte.

Zwischen dem Schuttberg und der Decke klaffte ein breiter Spalt. Ich kramte nach einem Geldstück, legte es auf den Teller und sprang an der Frau vorbei. Ich rannte die Stufen runter und begann, den Trümmerberg hochzuklettern.

Brocken gerieten ins Rutschen, Scherben von Kacheln, ich hörte die Frau hinter mir fluchen, hielt mich an einer Eisenstange fest, die von oben aus dem Beton ragte, zog mich hoch, schob mich an die Öffnung heran, kroch durch den Spalt ins Dunkle, kroch und fiel, fiel und rutschte den Schuttberg auf der anderen Seite wieder runter.

Rappelte mich auf, sah mich um.

Nein, hier war mein Bruder auch nicht, keine Spur von meinem Bruder. Vor mir ein Gang, der nur spärlich beleuchtet war, hinter mir Gepolter. Ich rannte los, meine Schritte hallten, der Gang war betoniert, die Wände gekachelt, hinter mir Verfolger, ich lief auf ein Licht zu am Ende des Gangs, erreichte eine Treppe, nahm drei Stufen auf einmal und befand mich unvermittelt in einem ausgedehnten, mit Neonlicht beleuchteten Raum.

Menschen standen in einer langen Schlange vor einem Glaskasten. Ich trabte an ihnen vorbei, aber bevor ich den Ausgang erreichte, wurde ich von zwei uniformierten Männern grob am Arm gepackt und zurückgeschleift ans Ende der Schlange. Hinten anstellen! herrschte mich einer der Männer an, wie alle anderen, hinter allen anderen. Warten Sie gefälligst. Sie glauben wohl, für Sie gibt’s Extraregeln!?

Dann stand ich am Ende der Schlange. Einer Schlange, die sich kaum bewegte. Worauf warteten diese Menschen? Sie warteten, bis sie dran kamen, sie warteten, bis sie sich vorgeschoben hatten, sie warteten, dass der Mann, der im Glaskasten saß, ihnen die Erlaubnis gab, weiter zu gehen, hinaus zu gehen aus dem hellgelb gekachelten, mit Neonlicht erfüllten Raum.

Was würde passieren, wenn ich vor dem Glaskasten stand? Die Menschen hielten Zettel in der Hand. Und Pässe. Ich hatte weder Zettel noch Pass. Der Mann im Glaskasten starrte die vor ihm Stehenden an, als wollte er Löcher in ihre Haut bohren. Als wollte er sehen, was in ihnen vorging. Er rechnete mit dem Schlimmsten, weil mit dem Schlimmsten gerechnet wurde. Aber was ist das Schlimmste? Wie sieht es aus? Das Schlimmste für mich war der Druck meiner Blase.

Je mehr ich mich dem Glaskasten näherte, desto größer wurde er. Die Schlange bewegte sich nur Zentimeterweise vorwärts. Hatte ich geschrien? Die Menschen drehten sich zu mir um. Eine Frau sagte: Aber doch nicht hier!

Ich wurde vorgeschoben, am Glaskasten vorbei geschoben, eine Treppe hoch geschoben, dann… war ich draußen.

Erleichtert atmete ich aus. Und ein. Und wieder aus. Es roch nach welken Blättern und dem Ruß von Braunkohle. Ein Mann näherte sich.

Großvater!

Kornelia!

Wir begrüßten uns. Er sagte: Komm mit!

Wir gingen an Häusern vorbei, über eine Straße mit Kopfsteinpflaster, erreichten einen Kanal. Hier habe ich angelegt, sagte er und deutete auf ein Faltboot, das unterhalb der Böschung an einem Strauch befestigt war. Ich stieg vorsichtig ein, das Boot kippelte, er gab mir ein Ruder, löste die Schnur und setzte sich auf den Platz hinter mir. Wieder Gewackel, einige Spritzer, das Faltboot wurde von der Strömung erfasst, mein Großvater stabilisierte es mit einigen Ruderschlägen.

Alles in Ordnung?

Ja, sagte ich, alles in Ordnung.

Es ging reibungslos, wir schnürten dahin, im Wasser hinter uns: eine Schaumschnur, eine Schaumwelle, eine Tropfenkette. Wir paddelten in gleichmäßigem Rhythmus, die Luft wurde frischer, die Sonne brach durch die Wolken, wir paddelten an Weiden und Büschen vorbei, an zwitschernden Vögeln und Vogelnestern.

Aus einem dieser Eier bin ich geschlüpft, sagte mein Großvater, vor neunzig Jahren.

Ich lachte. Das weiße Haar lag auf seinem Kopf wie Ei-Schaum, luftig und zart. Der Fluss wurde breiter und mündete in einen See. Mein Großvater steuerte das Ufer an, setzte einen Fuß aus dem Boot, tastete nach dem Grund, stieg aus. Gemeinsam zogen wir das Faltboot aus dem Wasser. Dann kramte mein Großvater in der Spitze des Boots, nahm einen Gegenstand heraus, entfernte eine Hülle und hatte eine Laute in der Hand. Er setzte ein Plektron an und spielte. Sein Gesicht war konzentriert und ruhig.

Er spielte lange.

Dann sagte er: Du weißt, dass ich tot bin. Aber ich kann noch nicht gehen. Meine Söhne...

Es war, als würde er von einer Strömung erfasst oder ich von einer großen Müdigkeit, ich verstand nicht, was dann kam, schon verstaute er die Laute, schon setzte er sich wieder ins Boot, schon griff er nach dem Ruder. Meine Augenlider waren schwer.

Warte, sagte ich, murmelte ich, warte doch auf mich!

Aber da sah ich ihn schon nicht mehr, das Boot verschwand, die Schaumspur löste sich rasch auf. Ich versuchte, meine Augen offen zu halten, aber sie fielen immer wieder zu.


( ... ) Meine Augen wanderten über das schmale blaue Regal über dem Herd: eine Dose Tartex. Ein Glas Bienenhonig. Wabenrein und kalt geschleudert. Original vom Imker. Daneben ein schmales Schild mit Goldrahmen: Walter Jakoby, Kiefernweg 4, Baldow. Ich schraubte den Deckel auf. Der Honig war kandiert und sah aus wie eine gelbe Kraterlandschaft. Hinter einem Honighügel tauchte mein Onkel auf. Er trug einen weißen Kittel und einen Imkerhut, seine Augen leuchteten dunkel hinter dem hellen Netz. Ich folgte ihm ins Bienenhaus. Es roch nach Holz, Wachs und Honig. Mein Onkel öffnete die Rückwand eines Kastens, zog einen der hintereinander hängenden Holzrahmen heraus und legte ihn auf einen Tisch. Ich sah ein Wabenfeld mit zungenförmigen Ausbuchtungen, sechseckigen Kammern, zugedeckelt mit einer hellgelben Schicht Wachs. Mein Onkel strich mit einer Schwanenfeder die herumkrabbelnden Bienen vorsichtig ab, nahm einen Metallkamm, schob ihn unter das Wachs und hob es ab. Darunter leuchtete ein See. Gelb, dickflüssig. Das Gesicht meines Onkels spiegelte sich darin und mein eigenes, klein am rechten Rand.

Mit einem Messer schnitt mein Onkel ein Stück der Wabe ab: Willst du mal probieren?

Die ganze Wabe? fragte ich, mehr erschrocken als erfreut, mit dem Wachs und allem drum und dran?

Ja, sagte er lächelnd, das Wachs kannst du dann ausspucken.

Die Wabe schob sich in meinem Mund zusammen wie der Balg eines Akkordeons und gab eine Flut süßer Töne frei, süß, sehr süß, zu süß fast, der Honig füllte meinen Mund, ich schluckte und schluckte und war froh, als der Honig weggeschluckt war. Erst dann nahm ich den Geschmack wahr, erst dann schmeckte er süß und gut.

Ich kappte eine Kuppe des kandierten Honigs und strich sie aufs Brot. Ich kann noch nicht gehen, meine Söhne ...

Einmal war die Beziehung süß und gut zwischen meinem Onkel und meinem Vater, einmal sah es so aus, als könnte nichts ihre Brüderlichkeit, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zerstören, nicht mal die Mauer. Aber dann fiel die Mauer und der Streit begann. Es war paradox: die Wiedervereinigung hatte zu ihrer Trennung geführt.

Ich sah aus dem Fenster. Die kahlen Äste der Linde spiegelten sich im Landwehrkanal. Gegenüber standen fünfstöckige Häuser, ocker, braun, grau, auch sie spiegelten sich im Wasser.


Der Bienenkönig, Weissbooks, Frankfurt, 2009.
Geb., 172 Seiten
€ 18,80 (D) / € 19, 40 (A) / CHF 28.90
ISBN: 978-3-940888-36-5

Buchbesprechung von Vladimir Balzer bei Deutschlandradio


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