Jean-Marie Bottequin     Text 3     Menu

Ausstellung 17.05. - 14.06.2001

Jean-Marie Bottequin: Rebell der Körperlichkeit

Interview von Birgit Mersman


Birgit Mersmann: Was verbindet Sie mit München und Deutschland, Ihrer langjährigen Wahlheimat? Spielt der Exilgedanke für Ihr künstlerisches Schaffen eine Rolle?

Jean-Marie Bottequin: "Man trägt sein Exil mit sich wie eine zweite Haut", das sagte Juan Uno, der Tango-Musiker aus Argentinien. Mein Deutschlandbild ist geprägt von der Figur des Soldaten und Kriegers. Die Angst ist geblieben bis Anfang der 80er Jahre. Ich war traumatisiert von der Vorstellung, Soldatenstiefel aufmarschieren zu hören. Fasziniert hat mich die Diskussionsfreudigkeit der Deutschen. In Belgien wird am Tisch gelacht, es werden Witze erzählt, es wird laut gegrölt und getrunken, aber es wird nicht diskutiert, geschweige denn philosophiert. Mein Vater sagte, wenn du Philosoph werden möchtest, dann musst du die logisch und klar strukturierte deutsche Sprache lernen. Deutschland ist mein Exil. Ich bin ein französischsprechender Flame, und gerade für einen Künstler, der in der belgischen Öffentlichkeit auftritt, ist der Bilingualismus eher hinderlich. Außerdem existierte in Flandern ein starker Druck von Seiten der Kirche. Die Prüderie und Bigotterie waren unerträglich, ebenso der provinzielle Geist dieses Landes. Viele Flamen sind ausgewandert. Mein Abenteuergeist und mein Rebellentum haben auch mich aus Flandern herausgetrieben.

B.M.: Sie haben sich als Kind der 68er-Bewegung bezeichnet. Waren Sie selbst politisch aktiv?

J-M.B.: 1968 war ich als Fotograf in Brüssel, um einen Auftrag für die Niederländischen Theatertage anzunehmen. Ich kann mich noch genau erinnern, es war das erste Mal, dass sich ein Paar auf der Bühne auszog. Man spielte ein Stück von Hugo Claus. Die Aufführung löste einen unglaublichen Skandal aus. Das war der Anlass dafür, dass politische Unruhen ausbrachen und der Palais des Beaux-Arts besetzt wurde. Das Paar wurde steckbrieflich von der Polizei gesucht. Ich versteckte es bei mir und brachte es außer Landes. Mir war klar, dass ich weiterhin gegen die extreme Prüderie kämpfen würde. In Deutschland herrschte ein anderes Verhältnis zum Körper. Die Freikörperkultur gab es schon lange. Ich war sehr froh, meine Kunst, die auch vom "Naturismus" inspiriert war, nicht mehr verstecken zu müssen. Bei einer Ausstellung in Belgien hatte ich Schwierigkeiten mit meinen Aktfotografien. Auf Antrag des Staatsanwaltes wurden meine Bilder von der Kripo beschlagnahmt und ein Jahr vom Gericht einbehalten. Damals fand ich die Idee des Nudismus interessant. Heute erscheinen mir die Darstellungen nur noch kitschig, übertrieben in ihrem heroischen Germanentum. Auch die 68er-Bewegung sehe ich jetzt mit ganz anderen Augen. Man muss die Dinge von innen verändern.

B.M.: Wie schlug sich der revolutionäre Geist in Ihrem Lebensstil und in Ihrer Kunst nieder?

J-M.B.: Der strenge Purismus meines Vaters bedingte eine Sucht, anders sein zu wollen. So hielt ich bei mir zu Hause Schlangen und Wildkatzen und fuhr mit meinem Löwen in einem offenen, selbstbemalten Volkswagen, einem Flower-Paint-Car im Stile der Beatles, auf der Straße herum. Ich trug Capes und einen großen schwarzen Hut. Das war bei uns in Flandern normal. In Deutschland aber nahm man Anstoß an diesem Exhibitionismus.

Ausgerechnet über Kristina Söderbaum lernte ich in München Karl Breyer kennen, der als Fotoreporter für Paris Match und Quick arbeitete. Wir gründeten die B & B Company (Bottequin und Breyer) und stellten gemeinsam aus: Breyer seine echten Kriegsfotos und ich meine unechten Kriegsfotos. Man wusste nicht, welche Fotos wirklicher waren: Seine Fotos mit Mobuto aus dem Kongo und aus Algerien oder meine Frauenkörper im Schlamm. Man konnte genauso gut denken, dass Breyers Kriegsfotos inszeniert waren.

B.M.: Häufig haben Ihre Ausstellungen Skandale ausgelöst. Die von Ihnen ausgestellten Bilder wurden in einigen Fällen Opfer gewaltsamer Übergriffe von Seiten des Publikums. Wie können sich sich die Reaktionen erklären?

J-M.B.: Schon 1964 in Belgien wurden meine Bilder anlässlich einer Ausstellung im "Salon de l' Humour" angefeindet. Ich hatte ein kleines vierjähriges Mädchen mit einem Hut und einem Stock wie Charlie Chaplin fotografiert. Es war ein humorvolles Foto. Und da hatte jemand mit einem Messer an der Scham gekratzt und hineingebohrt. Wiederholte Male wurden meine Fotos beschmiert, bespritzt und in Frankfurt wurde sogar eine ganze Ausstellung gestohlen. Ich kann mir das nur so erklären, dass meine Fotografien weh tun. Alles was Schmerzen zufügt, ist tabu. Meine Bilder sind nicht ästhetisch in dem Sinne, dass es sich um "schöne" Bilder handelt. Bis dahin war Fotografie fast nur eine Reproduktion der Welt. Wenn man meine Bilder betrachtet, gehen sie tief unter die Haut und bleiben unauslöschbar im Gedächtnis haften. Wahrscheinlich ist es also die Wut ganz allgemein, und besonders die der Kunstbeschmierer gewesen, dieses Gedächtnis ausradieren zu wollen. Odes ist dies die Norm des Abnormen?

B.M.: Was ist das Provokative und Skandalöse an Ihren Fotografien?

J-M.B.: Ich decouvriere Dinge, die man gar nicht zeigen kann. Ich will warnen, aber man mag diese Warnung nicht. Die Kriminalpolizei sagte, dass meine Fotos eigentlich ihre Fotos seien, sie würden öfters Leichen so fotografieren, wie ich es täte. Sie wollten ihre Arbeit nicht in einer Kunstausstellung sehen. Die Ärzte sagten, dass seien ihre Bilder, die sie auf dem OP-Tisch und im Leichenschauhaus machten. Übrigens taucht in der flandrischen Kunst immer wieder das Nekrologische auf.

B.M.: Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Ästhetik und Gewalt?

J-M.B.: Die kirchliche Kunst hat mich traumatisiert durch ihre Gewalt. Ständig diese Christusfigur und die Heiligenfolter. Es ist ein Phänomen, dass das nicht verboten wird. Dieses Blut, diese Darbietungen nackter gefolterter Körper. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Inder und gehen in eine Kirche. Sie werden entsetzt sein. Nicht nur wenn man die Kirche sowie das alte Testament betrachtet, wird man mit Krieg, Gewalt und Leiden konfrontiert. Auch in der Mythologie und in den Märchen herrscht Gewalt vor. In unserer Kulturgeschichte gibt es sehr mutige Maler, die Gewalt gezeigt haben, um zu warnen. Zum Beispiel Goya mit seinen Erschießungsszenen. Das hat mich stark geprägt.

B.M.: Ihr ursprünglich erklärtes Ziel war es, Maler zu werden. Durch einen Zufall aber sind Sie auf die Fotografie gestoßen und haben sie zu Ihrem Hauptberuf gemacht. Dennoch ist Ihre Fotografie ohne die Malerei nicht zu denken. Wie sehen Sie selbst in Ihren Werken das Verhältnis zwischen Fotografie und Malerei?

J-M.B.: Sicher war, dass ich Pädagoge für Malerei oder Grafik werden sollte. Die Fotografie kam hinzu, als ich während meiner pädagogischen Studien die Möglichkeit erhielt, an einem Experiment der Universität Gent mitzuwirken, in dem kriminelle Kinder mit normalen Kindern in Kunst unterrichtet wurden. Die künstlerischen Ergebnisse waren so beeindruckend, dass man die Presse einlud und ihr erklärte, dies seien Werke der Gruppe Cobra. Die Presse fiel auf unseren Betrug herein. Im Anschluss an dieses Projekt wurde ich von der UNESCO beauftragt, einen Film über dieses pädagogische Experiment zu drehen. Über den Film öffnete sich mir der Weg zur Fotografie. Dennoch ist mir die Malerei geblieben. Das hängt mit meinem Lehrer Octave Landyut zusammen, der fast fotorealistisch im Stil des Organischen Symbolismus malte. Das Schwarz-Weiß-Papier war mir schnell zu glatt. Deswegen begann ich Leinen, Zeichenpapier und andere Materialien zu verwenden und die Fotografie mit alten Verfahren zu bearbeiten, so dass sie sich in Malerei verwandelte.

B.M.: Würden Sie sich als Malerfotografen bezeichnen?

J-M.B.: Für mich gibt es keine festen Grenzen, weder ästhetisch, noch moralisch. Meine Absicht ist es, etwas zu schaffen, das die Grenzen sprengt. Ich bin nicht in eine Schublade oder irgendein System zu stecken. Ich habe meinen eigenen Stil.

B.M.: Gibt es fotografische Vorbilder, die Sie bewundern?

J-M.B.: Man Ray und seine Solarisationen habe ich sehr bewundert. Das Thema der Solarisation finde ich nicht nur von der ästhetischen, sondern auch von der philosophischen Seite sehr interessant. Andreas Feininger war mir in seiner Technik ein Vorbild, Bill Brandt schätzte ich, weil auch er ein Autodidakt war. Als Polizeifotograf hatte er eine eigene Kamera gebastelt, einen Holzkasten mit einem Loch darin. Durch seine Weitwinkelperspektive erzeugte er eine extreme Körpernähe, die Mensch und Natur miteinander verschmolz. Irving Penns Fotografie gefiel mir, weil sie das Natürliche in eine ungewohnte Umgebung transponierte. Ferner hat mich Joel-Peter Witkins Perfektionismus der Montage und Collage beeindruckt, ebenso Pierre Moliniers Ehrlichkeit zu seiner eigenen Homosexualität.

B.M.: Wo ist für Sie die Grenze zur Pornographie zu ziehen?

J-M.B.: Pornographie ist ein vollkommen künstliches Wort, das irgendwann von einem Inquisitor geprägt wurde. Für mich kann es keine Pornographie geben, weil alles, was der Mensch macht, menschlich ist. Gewalt gehört zu unserer Kulturgeschichte. Pornographie zeigt eine Wirklichkeit. Was ich nicht akzeptiere, ist Scheinheiligkeit, doppelte Moral und Kitsch. Pornographie ist für mich primitiv. Die Sucht nach Kitsch ist nichts anderes als ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, nach Nähe - ein Urbedürfnis. Pornographie ist einfach qualitativ schlecht, schlechte Kunst, die durch mangelndes Können entsteht.

B.M.: Ist der Künstler ein Voyeurist?

J-M.B.: Jeder Mensch ist ein Voyeur. Ein Kind ist ein Voyeur. Durch das Aufheben des Bildverbots sind wir zum Voyeur geworden. Unsere ganzen Statussymbole, unsere ganze Wirtschaft ist darauf abgestimmt, dass wir Voyeure sind. In meiner Kunst entlarve ich die Menschen als Voyeure. Lieber züchtigen die Menschen die Lust, als dass sie die Normalität des Natürlichen zeigen. Das ist unsere arme, perverse Gesellschaft, in der alles unecht ist.

B.M.: Es ist auffällig, dass Sie überwiegend Frauenkörper fotografieren. Was bedeutet für Sie der weibliche Körper?

J-M.B.: Die Frau ist mehr als ein Körper, die Frau ist bei mir immer die Göttin. Ich habe großen Respekt vor dem Matriarchat, vor dem Ursprünglichen und Urtümlichen in der Frau. Deshalb rebelliere ich auch gegen den Konsum der Frau als Lust- und Gewaltobjekt. Wir sind verseucht mit Kitsch - und auch mit inexistenten Frauenkörpern.

B.M.: Wann fiel im Zusammenhang mit Ihren Fotos der Ausdruck entartete Kunst?

J-M.B.: Das Wort wurde von einem Engländer in einem Artikel verwendet, der es unmöglich fand, dass ich einen drei Meter hohen Phallus in Gestalt eines Totems darstellte. Das ist absurd in einer Zeit, wo in unserer Gesellschaft ständig Phallussymbole geschmiedet werden vom Automobil über den Füller bis zum Lippenstift. Hat man das genug hinterfragt?

B.M.: Man spricht derzeit viel von der Tendenz zur Entkörperlichung. Spielen Ihre "Mummugrafien" nicht auch mit der Auflösung des Körpers?

J-M.B.: In allen meinen Bildern zeige ich Körper, die wir nicht mehr kennen, neue Seelenkörper. Bei den "Mummus" hat kaum einer erkannt, welche Körperteile dargestellt sind. Das hat mich nachdenklich gestimmt. Mit meinen Mummugrafien befinde ich mich in einem Stadium, wo ich mich von den Menschen bereits verabschiede. Durch die Umkehrung der Fotos vom Positiv ins Negativ sind die menschlichen Figuren nicht mehr erkennbar. Das zeigt, wie konditioniert wir sind. Konditioniert durch den Überfluss von Bildern. Ich hätte gerne gewusst, wo wir heute stünden, wenn das Bildverbot - das sich ja auch auf eine merkwürdige Art durchgesetzt hat - noch existieren würde. Bilder kann man nur Menschen zeigen, die in der Lage sind, sie zu verarbeiten und zu verstehen. Ich kann meine Bilder zum Beispiel nicht im Iran zeigen. Man kann nicht alles zeigen. Das könnte auch die Gefahr des Internet sein. Es wird sich bald abzeichnen, wie sich das Virtuelle auf den Menschen auswirken wird. Man kann einer Frau aus Anatolien bestimmte Bilder von Helmut Newton nicht zeigen. Auch Bücher sind nicht dafür gemacht, dass jeder sie liest. Das heißt nicht, dass wir sie deswegen gleich verbrennen müssen... Wahrscheinlich würde man verrückt werden, wenn man einige Bücher läse, die sich im Vatikan hinter Schloss und Riegel verbergen. Ich bin der Überzeugung, dass uns das Bild krank macht. Am liebsten würde ich mir selbst ein Bildverbot auferlegen, denn ich spüre ein Bedürfnis nach Bildstille - nach stillen Bildern.

Dr. Birgit Mersmann, München





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