Gabriele Boulanger     Menu

Wild Spirits    Text von Christine Hamel

Ein Löffel auf dem Papier. Dinghaftes Zeichen und zeichenhaftes Ding. Der Löffel markiert den Beginn einer neuen Phase im Werk von Gabriele Boulanger. Die Malerin ging 1997 auf Reisen, große Bilder hatte sie im Kopf, mit kleinformatigen Zeichnungen im Gepäck kam sie zurück. Mit Bildern von Löffeln, einem einfachen, elementaren, alltäglichen, jedermann vertrauten Gegenstand. Ein Gegenstand, den man schon kennt, der gesehen, aber nicht mehr betrachtet wird. Manchmal sehe ich es und male es dann. Ein andermal male ich es und sehe es dann, bekannte einmal Jasper Johns, als er nach seinem alltäglichen Bildthemen befragt wurde.

Gabriele Boulanger buchstabiert, ähnlich wie ein Kind die Schriftsprache, die Bildsprache der Malerei, wenn auch von einem reflektierten Standpunkt aus: Sie wiederholt Grundformen der Malerei, um sich ihrer zu vergewissern. Durch Vereinfachung und Vereinzelung der Mittel Motiv, Linie, Farbe werden wir durch die Löffelbilder auf die Malerei selbst verwiesen. Die Löffel Gabriele Boulangers haben weder ein äußeres Äquivalent, noch sind sie Teil einer inneren Realität. Vielmehr entstammen sie aus der Malerei selbst, sind Variationen ihrer Geschichte sowie ihrer medialen Eigenschaften.

Ihre Löffelbilder beginnen ohne Absicht und ohne Vorgabe. Das Motiv wird der Fläche mit weichen, schnellen, sehr malerischen Strichen und Linien abgewonnen. Dabei baut sich ein spannungsvoller Pendelgang zwischen flächiger Komposition einerseits und figurativer Form andererseits auf Ist der Löffel ein Löffel oder ein Bild, eine Abstraktion oder ein Abbild?

Der Löffel ist nicht so spröd wie die Gabel, nicht so scharf wie das Messer. Seine Form hat Kurven, ist rund, läßt sich sinnlich aufladen. Im Malprozess spannt sich der Bogen weiter: Die Löffelform wird zum ausgestreckten Arm, zum Greifwerkzeug und zur zum Auffangen geformten Hand. Es entstehen neue Figurationen, die sich in der langen, schmalen Fläche einzurichten haben. Kein komfortables Unterfangen, die Figuren müssen sich drängen, krümmen, bücken, den Kopf einziehen. Und was eben in den Löffelbildern noch nah war, diese Erholung für die Sinne, die Ruhe für die Augen ist in weite Ferne gerückt.

Der Löffel und die Figur: Gabriele Boulanger holt sie in ihren Malbüchern hervor. In kleinen, schmalen, von dicker Pappe geschützten Büchern, die man anfassen, einstecken, immer bei sich haben, immer und überall einschauen kann. Vorder- und Rückseite der Blätter sind dicht bemalt, wer ein Buch aufschlägt, gerät in den fulminanten Sog einer Bildwelt, die sich einem eng auf den Leib schnürt, aus der es kein Entkommen gibt. Jedem Buch folgt ein neues Buch, man ahnt einen unendlichen Bilderbogen, der sowohl Bewegung als auch Kontinuität suggeriert. Worte haben in den Büchern von Gabriele Boulanger nur noch im Bild einen Platz, mal als Titel, mal als Wink, geschrieben in malerischen Lettern. Ihre Vorläufer finden die Bücher in der mittelalterlichen Armenbibel, in der neutestamentliche Bilder mit Ereignissen des Alten Testaments zu moralisierenden Botschaften zusammengezogen wurden. Der Text, der nur noch in Zeilen oder auf Spruchbändern auftauchte, stellte die Bezüge her. Die Bilder und die Botschaft von heute kennen keinen Advent mehr, haben sich seither gründlich geändert. Eine Galerie von Fratzen, ja dämonenhaften Fabelwesen hat bei Gabriele Boulanger ihren Auftritt, gerade so als seien sie dem Theater der Grausamkeiten des Antonin Artaud entsprungen, von dem er forderte: Das Theater kann nur dann wieder es selbst werden, wenn es dem Zuschauer wahrheitsgetreu die sich jagenden Traumbilder bietet, in denen seine verbrecherischen Neigungen, seine erotischen Zwangsvorstellungen, seine Wildheit, seine Chimären... ja sein Kannibalismus sich entladen.

Die Malerei ist erfüllt vom lustvollen Umgang mit der Konsistenz Farbe, trockener Pastell und fettiger Ölkreide. Mit den Fingern werden Farbflächen aufgetragen, die im Laufe der malerischen Handlung stets eine neue Gestalt annehmen. Um diese zu einem Bild zusammenzufügen, läßt sie ihren wild spirits freien Lauf, erfindet Geschichten, sucht nach uralten Bildern, so daß eine unerhörte Szenerie, ein Wunder oder eine Katastrophe entsteht. Hände, Arme, Füße, Köpfe mit hohlen Augen und zähnefletschenden Mündern tauchen vor einem nachtschwarzen Hintergrund auf. Zu ihnen gesellen sich gespenstische Tierwesen, eine Art Fledermaus, ein Schaf, das für die Qualität Wollsiegel steht, ein Fisch, von dem man nicht weiß, ob ihn schon der Mensch verschluckt oder ob er noch den Menschen fressen wird oder eine Hirschkuh, die blöde ihre Zunge herausstreckt. Alles Kreaturen, Boten aus dem ewigen Nachtreich, wild spirits die nicht mehr zu bändigen sind und in einem affektiven Malprozeß ans Licht der Erde geschleudert werden.

Oft übermalt Gabriele Boulanger auch Texte, deren Schrift unter dem Farbauftrag noch durchscheint, oder integriert bereits bestehende Bilder in ihre zwingende Bildwelt wie beispielsweise bei dem Lustspiel von Tier und Frau. Dabei handelt es sich um eine permissive Überlagerung von Bildern aus Kulturbereichen, deren Wurzeln sehr verschieden sind.

Das Durchwandern der menschlichen Psyche gleicht in der Malerei von Gabriele Boulanger einem Gang durch die Unterwelt, in der sich die wild spirits des Menschen, die sexuellen, aggressiven, ekstatischen und rituellen entfesseln.

Viele Jahre hat sich die Malerin mit afrikanischer Kunst und Art Brut befaßt; ist eingetaucht in eine zivilisatorisch ungefilterte, ungleich rauhere Welt, die den Bildern heute ihre Wucht gibt. Gabriele Boulanger kennt kein Brüten über den Bildern, ihre Phantasmen entstehen vielmehr unmittelbar als Antwort auf all die nahen und fernen alltäglichen Tragödien. Fratzenhafte Gesichter, aufgerissene Münder und stechende Augen sind Ankerpunkte im furiosen Auftrag der Farbe, im vitalen Malprozeß, der auf engstem Raum ein Höchstmaß an Expression entfacht, deren Sprengkraft wiederum allein der Raum unter Kontrolle hält. Die Bilder werden zu einem existentiellen Sinnbild menschlichen Innenlebens, das immer wieder an die Grenzen der Zivilisiertheit, der Moral stößt und nur gebändigt an die Oberfläche treten kann. Unseren hemmungslosen Auftritt haben wir nur in der Kunst!

Welch Glück, daß wir die wild spirits von Gabriele Boulanger immer bei uns haben können, und so immer mal schnell einen Blick auf die andere Seite in uns werfen können.

Christine Hamel

München 1998

zitiert aus: Gabriele Boulanger: Bilder aus Malbüchern, © Gabriele Boulanger 1998





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